Teil 5 – Noch mehr Ideen gegen übertriebenen Perfektionismus – Perfektionismus Teil/2

„Dein letztes Seminar war ist anscheinend gut gelaufen“. Lächelnd lehnt sich Sonja Zienert, die Personalleiterin zurück. Das Gespräch mit Gesa Steinmann, ihrer Mitarbeiterin aus der Personalentwicklung eines IT-Dienstleisters, geht langsam dem Ende zu und sie möchte noch einen kritischen Punkt ansprechen. „Zumindest die Feedback-Bögen sind ganz gut ausgefallen.“ „Ja“, seufzt Gesa erleichtert, „das war ein hartes Stück Arbeit. Wir hatten ja nur zwei Tage Zeit und dann den ganzen Stoff einer Grundlagenschulung Kommunikation durch zu kriegen ist eine echte Herausforderung“. „Ich bin auch zufrieden, wie es gelaufen ist,“ setzt Sonja von Neuem an, „aber eines wundert mich doch immer wieder. Bei der Frage „Inwieweit konnten Sie eigene Fragen mit einbringen“ haben alle Teilnehmer „wenig“ angekreuzt. „ Jetzt ist das Lächeln aus Sonjas Gesicht komplett verschwunden. „Wie erklärst du dir das?“ Für Gesa kommt diese Frage überraschend. Einen Moment lang weiß sie nicht, was sie antworten soll. Doch dann sagt sie „Du weißt doch, wie wenig Zeit ich habe. Wenn wir anfangen zu diskutieren, komme ich mit meinem Stoff nicht durch. Und dann müssten wir noch einen Tag dran hängen. Du hast doch gesagt, dass unser Budget für maximal zwei Schulungstage reicht.“ „Das stimmt“, erwidert die Personalleiterin, „ aber ich hab mal die Feedback-Bögen deiner zehn letzten Seminare durchgesehen. Leider haben die Mitarbeiter auch in anderen Seminaren kritisiert, bei dir zu wenig eigene Themen und Fragen mit einzubringen zu können.“  Gesa ist platt. Das kann nicht wahr sein. Gerade jetzt, wo sie sich extra viel Mühe gegeben hat, alles unter einen Hut zu bekommen, wird an ihr herumgenörgelt. „Das sehe ich ganz anders“, gibt sie zurück, „noch nie habe ich so viel Vorbereitung in ein Seminar gesteckt. Ich habe sämtliche Folien überarbeitet, den Seminarablaufplan dreimal geändert. Nur um zu gewährleisten, dass alle wichtigen Themen dran kommen.“ Gesas Stimme ist lauter geworden. Wütend verschränkt sie die Arme vor der Brust und lehnt sich lässig zurück. „Das verstehe ich ja, Gesa“, besänftigt die Personalerin,  „ich schätze deine Arbeit sehr. Gerade deswegen, weil du so perfekt darin bist, Seminare zu planen und zu strukturieren habe ich dir diese Aufgabe ja gegeben. Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass du zu perfekt bist. Warum lässt du dir nicht ein bisschen mehr Zeit? Dann sind die Teilnehmer zufriedener, weil sie mehr Fragen stellen können. Und du bist auch entspannter, weil du nicht mehr so viel Stress hast. Probier’s beim nächsten Seminar einfach mal aus.“

Zuviel des Guten

Wie ungerecht! Ausgerechnet jetzt, wo sie sich besonders viel Mühe gegeben hat, wird sie kritisiert.

In ihrem Ärger merkt Gesa gar nicht, dass gerade darin der Fehler liegt. Nur weil sie zu perfekt vorbereitet ist, wird sie so angreifbar.

Schon Aristoteles wusste, dass eine Stärke, die wir übertreiben, automatisch zur Schwäche wird. Wer zu genau ist, wird pedantisch. Wer zu spontan ist, wird unberechenbar.  Auf die Dosierung kommt es an. Und etwas anderes ist noch wichtig. Jede Stärke braucht ein positives Gegenstück zum Ausgleich. Die Genauigkeit braucht die Großzügigkeit, die Toleranz passt zur Regeltreue. Dieses Wissen um die Harmonie der Gegensätze ist in allen Kulturen dieser Erde verankert. Es hilft uns, zu verhindern, eigene Stärken zu übertreiben. Denken Sie nur an das chinesische Ying-Yang-Symbol. Es zeigt am deutlichsten, dass nur durch das Zusammenspiel zweier Pole perfekte Harmonie entsteht.

Genau davon handelt der folgende Abschnitt.  Anhand eines einfachen Modells möchte ich Ihnen zeigen, um wie viel angenehmer es ist, mit zwei Stärken einzigartig zu werden anstatt mit nur einer scheinbar perfekt.

Gemeinsam sind wir stark

Als der Hamburger Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun vor 25 Jahren das Modell des Wertequadrats erfunden hat, wollte er Menschen helfen, eigene Stärken stärker zu betonen und deren ungewollte Übertreibungen zu vermeiden.

Die zugrunde liegende Idee ist ganz einfach: immer zwei Stärken gehören zusammen –  wie Geschwister halt.

Die Stärke Gründlichkeit hat als Gegenstück die Großzügigkeit (im Sinne von Mut zur Lücke). Wenn man allerdings wie Gesa die Genauigkeit übertreibt, wird sie zur Kleinlichkeit. Und umgekehrt wird jemand, der großzügig ist, oberflächlich und ungenau. Vorausgesetzt er übertreibt seine Stärke.

Erkennen Sie das Prinzip? Sie können es auf jede andere Situation übertragen.

Die folgende Abbildung zeigt das Wertequadrat für die Stärken Genauigkeit und Großzügigkeit.

Das Wertequadrat
Das Wertequadrat

Abb. 3.1.1. Das Wertequadrat

Immer zwei Stärken ergänzen sich

Probieren Sie das Wertequadrat doch einmal mit einer eigenen Stärke  aus. Vielleicht stehen in der oberen Reihe dann nicht Großzügigkeit und Gründlichkeit, sondern stattdessen Vertrauen und Vorsicht. Diese beiden Stärken spielen ja eine große Rolle, wenn man sich in ein neues Team einarbeiten muss. Da man noch niemanden kennt, wird man vorsichtig sein, was man sagt. Schließlich wissen Sie noch nicht, wie der andere reagiert. Andererseits wäre es fatal, wenn Sie zu misstrauisch sind. Denn dann entsteht keine vertrauensvolle Arbeitsbasis. Nur vorsichtig zu sein oder nur Vertrauen zu zeigen bringt Sie jetzt nicht weiter, Um sich optimal im Team einzuleben brauchen Sie beides. Das Wertequadrat zeigt Ihnen, was zu tun ist, um eine bereits begonnene Übertreibung zurückzuschrauben. Die Pfeile in der Abbildung zeigen an, welche Entwicklungsrichtung Sie einschlagen müssen, wenn Sie aus Versehen in der Übertreibung gelandet sind. Vielleicht waren Sie zu vertrauensselig und haben gleich am ersten Tag erzählt, was in der letzten Abteilung alles schief gegangen ist. Dann sollten Sie jetzt vorsichtiger sein, denn Sie wissen ja noch nicht, ob der andere nicht alles brühwarm weiter erzählt. Oder Sie haben noch gar nichts von sich erzählt. Dann werden Sie mit den anderen nicht warm werden, weil niemand sie richtig einschätzen kann. In so einem Fall sollten Sie den anderen einen Vertrauensvorschuss geben.

Auch wenn sich alles in Ihnen sträubt und Sie gar keine Lust haben, Vertrauen zu  zeigen, Sie sollten trotzdem versuchen, gegen das Misstrauen anzugehen. Lassen Sie sich  jetzt von Ihrem Verstand leiten, von der Erkenntnis, dass das Wertequadrat Ihnen hilft, die richtige Balance zu finden.

Sie werden sehen, die Mühe lohnt sich. Denn wer vertrauensvoll und vorsichtig sein kann, arbeitet sich schneller in einem neuen Team ein.

Und eine Seminarleiterin, die gut vorbereitet ist und trotzdem auf Fragen der Teilnehmer eingeht, wirkt viel überzeugender als eine, die nur perfekt sein will. Genau deshalb hat Gesa sich entschieden, etwas Neues auszuprobieren. In einer Art Experiment will sie ausprobieren, wie Sie den Gegenpol ihrer Stärke „Perfekte Vorbereitung“ mit ins Spiel bringen kann.

Das persönliche Experiment

Montagmorgen 09.00 Uhr. Gesa Steinmann begrüßt gerade ihre Seminarteilnehmer. So wie jedes Mal. Wirklich? Nein, heute ist alles anders, denn heute beginnt Gesas Experiment. Heute wird sie nicht die perfekt vorbereitete sondern die Trainerin mit Spielraum für offene Themen sein.

Ganz gegen ihre Gewohnheit hat sie im Seminarprogramm Lücken gelassen. Bevor das Experiment los geht, notiert sie genau, welche Gedanken und Gefühle ihr durch den Kopf gehen.

Das sollten Sie auch tun. Wenn Sie dann anschließend das Geschehen in der konkreten Situation beschreiben und abschließend Ihre Gedanken und Gefühle nach der Situation notieren, werden Sie erkennen, wie das Wertequadrat Ihr Verhalten positiv beeinflusst.

Hier sehen Sie die Tabelle, mit der Gesa Steinmann ihr Verhalten protokolliert hat.

Tabelle 3.1.2. Das persönliche Experiment

Gedanken und

Gefühle vor der

Situation

In der Situation

Gedanken und

Gefühle nach

der Situation

Die Trainerin mit Mut zur Lücke Angst, keine Antwort zu wissen, Angst blöd da zu stehen, Angst, sich zu blamieren Anregende Diskussion unter den Teilnehmern. Kritische und lobende Stimmen. Aufgeregt, weil es auch hätte schief gehen können. Stolz, weil die Teilnehmer offenbar sehr engagiert mitdiskutiert haben und ihr gutes Feedback gegeben haben.
Die perfekte Trainerin ….. ….. …..

Das persönliche Experiment hilft Ihnen, Stärken und Schwächen besser einzuschätzen

Wie Sie sehen, befürchtet Gesa vor ihrem Experiment, keine Antworten zu wissen und sich zu blamieren. Schauen wir doch mal, was anschließend im Seminar wirklich passiert ist.

„ So, Sie haben nun die wichtigsten Prinzipien erfolgreichen Verkaufens kennengelernt“, beginnt Gesa. Ein Blick zur Uhr zeigt, dass sie noch eine ganze halbe Stunde Zeit bis zur Mittagspause hat – ungeplante Zeit, die nun spontan gefüllt werden soll. „Wenn Sie sich das nochmal alles durch den Kopf gehen lassen, welches Prinzip gefällt Ihnen besonders?“ fragt Gesa in die Seminarrunde. Herr Müller, der sich bislang gar nicht geäußert hat, meldet sich: „Also wenn ich ehrlich bin, halte ich von Ihren Verkaufsprinzipien überhaupt gar nichts.“ Kurze Pause. Gesas Magen zieht sich krampfartig zusammen. Genau so etwas hatte sie befürchtet. Genau deswegen gibt sie das Zepter nicht aus der Hand, damit so etwas nicht passiert. Sie bemüht sich, die Fassung zu wahren und fragt scheinbar interessiert nach: „Wie meinen Sie das, Herr Müller?“ „ Na so wie ich es gesagt habe. Das ist doch nur alles graue Theorie, in der Praxis haben wir es doch mit ganz anderen Problemen zu tun.“ Irgendwo in ihrem tiefsten Innern meldet sich eine Stimme, die ruft „siehst du? Ich hab’s dir gleich gesagt. Das geht schief. Jetzt nehmen sie dich komplett auseinander und danach kannst du deinen Job an den Nagel hängen.“ Doch dann passiert etwas Ungewöhnliches – Gesa entdeckt ihren Kampfgeist. Und ihre Streitlust. „Da bleib ich jetzt dran“, sagt sie sich und mit fast freudiger Aufregung fragt sie in die Runde: „Wie sehen die anderen das denn? Sie sind doch alle Verkaufsprofis. Wie sind Ihre Erfahrungen?“ Frau Steiner, die Dienstälteste meldet sich zu Wort: „Ich finde, Herr Müller übertreibt. Sicher treffen Ihre Beispielsituationen nicht immer unsere Praxis. Aber als wir vorhin das Zuhören besprochen haben, ist mir schon klar geworden, dass ich zu oft einfach nur meine Sprüche abspule. Ich habe mir jetzt schon vorgenommen, dem Kunden mehr Raum zu geben, zu sagen, was er eigentlich will.“ „Genau“, ruft jetzt Herr Schulze dazwischen, „seien wir doch mal ehrlich. Wir sind zwar alles alte Hasen, aber wie schnell landet man im alten Trott, wenn man sich nicht hinterfragt? Auch wenn ich das alles schon mal gehört habe, was Frau Steinmann uns erzählt, ich muss mich immer und immer wieder dran erinnern…“, „Ach, das ist doch alles verschwendete Zeit“, unterbricht jetzt wieder Herr Müller, und wird sofort von Frau Steiner abgewürgt: „jetzt lass den Kollegen doch wenigstens mal ausreden. Wie willst du denn dem Kunden richtig zuhören, wenn du noch nicht mal uns ausreden lässt?“ Einige schmunzeln.

Wir lassen Gesa und ihr Seminar jetzt mal allein. Es wurde noch hitzig weiter diskutiert und Sie ahnen natürlich längst, dass die Teilnehmer vor allem diese Diskussion besonders interessant fanden.

Was Gesa am Ende in ihre Experiment-Tabelle eingetragen hat, sehen Sie oben. Jetzt, wo sie gemerkt hat, dass sie als nicht perfekte Trainerin bei den Teilnehmern gut ankommt, ist sie erleichtert. Am nächsten Tag wird sie wieder die Alte sein, die Perfekte. Sie ist sehr gespannt, was am sie am Ende des Tages dann in ihre Beobachtungstabelle eintragen wird.

Und etwas anderes hat sie noch entdeckt: ihren Mut. Mittendrin, als die Angst, die Kontrolle zu verlieren am allergrößten war, hat Gesa ihre Angst vergessen, weil die Lust zu kämpfen plötzlich größer war. Ein wichtiger Moment, der mich an David erinnert, als er sich dem Riesen Goliath genähert hat.  Auch er hat sich entschieden, auf die Soldatenrüstung zu verzichten und nur mit seinem Mut zu kämpfen. Mit Hirtenumhang und Steinschleuder bewaffnet ging er auf Goliath zu. David weiß, dass die Rüstung ihm in diesem Kampf nicht viel nützen wird. Er verlässt sich allein auf seinen Glauben und auf seinen Mut. Nur deswegen fällt es  ihm leicht, etwas zu riskieren. Und nur deswegen, weil er etwas riskiert, wird er einzigartig.


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