Teil 3 – Warum Sie unter Ihrem eigenen Perfektionismus leiden – Perfektionismus abbauen/1

Am 30. März 1867 unterzeichnete der damalige amerikanische Außenminister William Sewald einen Kaufvertrag, den die Weltöffentlichkeit wenig später als „Sewards Dummheit“ verspottete. Sewald hatte für gerade mal 7,2 Millionen Dollar dem Russischen Reich einen ganzen Erdteil abgekauft.

Dass dieser Kauf Weltgeschichte schrieb, liegt allerdings weniger an dem Ausmaß der Dummheit, sondern daran, dass aus diesem scheinbaren Fehler Jahre später einer der größten politischen Erfolge der USA wurde.

Kein Mensch ist unfehlbar. Und trotzdem tun wir immer noch so, als dürften Fehler nicht passieren. Daher geht es in diesem Kapitel um Fehler, die in jeder Firma tagtäglich passieren und die leider viel zu selten zu Erfolgen verwandelt werden. So wie bei der Samtweich AG, lesen Sie mal, was dort gerade Katastrophales passiert ist.

Wie konnte das passieren?

Frau Schmidt zuckt erschrocken zusammen, als Thomas Schröder, ihr Chef, mit der flachen Hand auf den Tisch haut. Drei Sekunden später reißt er die Tür auf und stürzt mit hochrotem Kopf an ihr vorbei, zur Tür hinaus in die Produktionshalle. „Etwas ganz Schlimmes muss passiert sein“, denkt sie noch, „ sonst wär er nicht so“. Und richtig, eine Stunde später weiß es die ganze Firma. Die Drogeriekette MyWay hat festgestellt, dass in der letzten Lieferung des Deodorants Sky der Duftstoff fehlt. Weitere Recherchen ergaben, dass der Produktionsfehler in der Schicht vom 27.02. passiert sein muss.

Thomas Schröder kocht innerlich, als er zwei Stunden später mit den Schichtleitern zusammen sitzt. „Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass so etwas eigentlich nicht passieren darf“ startet er seine Standpauke. Fünf Schichtleiter blicken peinlich berührt zur Seite, während ihr Chef aufgeregte Kreise um den Konferenztisch zieht. „Aber eines kann ich Ihnen versichern, das wird Konsequenzen haben. Und damit Sie sehen, wie ernst ich es meine, kündige ich jetzt schon mal an, jeden von Ihnen einzeln zu befragen. Ich will einen lückenlosen Bericht, und zwar bis spätestens morgen früh. Ich will  jeden Produktionsablauf zwischen dem 26. und 28. Februar bis ins Kleinste dokumentiert sehen.“ Klaus Koch ist der einzige, der sich traut, eine Frage zu stellen: „ Aber Chef, wie sollen wir das anstellen, der Laden läuft doch nebenbei weiter. In drei Stunden ist die Schicht zu Ende, das schaffe ich niemals.“

Da haut Thomas Schröder zum zweiten Mal auf den Tisch. Dieses Mal noch lauter als vorher. „Das ist mir völlig wurscht“, brüllt er, „und wenn Sie die ganze Nacht hier bleiben. Morgen früh um Punkt acht will ich die Berichte auf meinem Schreibtisch sehen. Ansonsten werden hier Köpfe rollen!“

Glauben Sie, Thomas Schröder wird jemals herausbekommen, was in der Produktion schief gelaufen ist? Ich glaube nicht. Im Gegenteil, seine Schichtführer werden alles daran setzen, den Fehler zu vertuschen. Weil sie ihren Kopf nicht durch die Produktionshalle rollen sehen wollen.

Natürlich ist es verständlich, dass Thomas auf hundertachtzig ist. Schließlich muss er für den Fehler gerade stehen. Doch er muss sich entscheiden: will er sich abreagieren oder will er die Fehlerquelle finden? Lässt er seine Wut an seinen Mitarbeitern aus, werden sie nicht offen mit ihm über die Ursachen reden. Deshalb wird genau der gleiche Fehler beim nächsten Mal wieder passieren. Weil sich keiner mit der Ursache beschäftigt hat und niemand die Chance hatte, aus diesem Fehler zu lernen.

Denn dazu sind die Fehler ja eigentlich da. So war es schon immer in der Geschichte der Menschheit: nur weil wir Fehler gemacht haben und aus diesen Fehlern gelernt haben, sind wir so hochentwickelt. Davon mehr im nächsten Abschnitt. 

Irren ist menschlich und wichtig

Das sagt auch die Hirnforschung. Wissenschaftler wie zum Beispiel Prof. Dr. Gerald Hüther behaupten, dass unser Gehirn sich nur deshalb so prächtig entwickelt hat, weil Generationen von Vorfahren Fehler gemacht haben. Nur aufgrund von Fehlentwicklungen wurden wichtige Lern- und Anpassungsprozesse in Gang gesetzt.

Denn vor Millionen von Jahren konnten sich zunächst nur diejenigen Lebewesen durchsetzen, die ihre Fähigkeiten spezialisierten. Einige konnten dem Feind besser durch Wegfliegen entkommen, andere konnten schnell weglaufen und einige hatten die perfekte Tarnfarbe um sich zu verstecken. So konnten diese Spezialisten Lebensraum-Nischen besetzten, aus denen sie keiner vertrieb. Und dann gab es einige, die den Anschluss verpasst haben, die den Fehler machten, sich nicht zu spezialisieren. Das waren unsere Vorfahren. Ringsherum waren plötzlich alle Nischenplätze mit Spezialisten besetzt. Also besetzten die Übriggebliebenen einen Lebensraum, in dem sie alles können mussten: sehen, riechen, weglaufen, klettern und noch mehr.

Diese Lebewesen, unsere Vorfahren, die den Wettbewerb eigentlich verloren hatten bekamen als einzige die Chance, ein Gehirn zu entwickeln, das für möglichst viele Möglichkeiten offen war. Sie mussten sich anstrengen, um ihre Probleme in den Griff zu bekommen

Die anderen, die sich in ihrer Nische perfekt eingerichtet hatten, blieben in ihrer Entwicklung stehen. Es gab ja keine Herausforderung mehr.

Heutzutage ist es nicht anders. Der Mensch und sein Gehirn müssen sich ständig verändern, um sich optimal anzupassen. Und genau in dem Übergang zwischen „es funktioniert ja noch alles“ bis zu „jetzt müssen wir aber was anders machen“ passiert ein Fehler, vielleicht sogar ein gravierender mit schlimmen Folgen. Nur deswegen lernen wir etwas Neues dazu, weil etwas schief geht.

Was falsch daran ist, alles richtig zu machen

Vielleicht weiß Thomas Schröder sogar, dass es falsch ist, seine Mitarbeiter unter Druck zu setzen. Aber er kann eben nicht anders. Seine Wut ist so groß, dass er sie unbedingt loswerden muss.

Ich glaube, dass hier das eigentliche Problem liegt: dass Fehler passieren, ist uns bewusst, aber wie man so damit umgeht, dass man aus ihnen lernt, dass wissen viele nicht. Weil nicht darüber geredet wird.

Viele Menschen haben keine Ahnung, welche Fehler ihr Chef toleriert und welche nicht. Da tut man lieber so, als würde man alles richtig machen. Das ist immer noch besser als blöd da zu stehen und sich schlecht zu fühlen.

Wer etwas falsch macht, schämt sich nämlich und wird deswegen wütend, traurig oder resigniert. Kein Mensch freut sich, wenn ihm etwas misslingt.

Was wäre also, wenn man sich nicht schämen und verstecken müsste, wenn man was falsch macht? Wir hätten die Chance unmittelbar aus dem Fehler zu lernen. Ohne die Umwege über Wut, Ärger, Scham und unnötige Beschuldigungen durchzumachen.

Regelmäßige psychologische Untersuchungen des Gallup Instituts zeigen, dass Teams, die in einer Atmosphäre von Unterstützung und Offenheit arbeiten, schneller mit schwierigen Veränderungsumständen fertig werden als Teams, die unter starkem sozialen Druck und starker sozialer Kontrolle stehen.

Wenn also in Ihrem Team etwas richtig schief läuft, sollten Sie als Vorgesetzter oder Kollege zuallererst dafür sorgen, dass die Fehlerquellen in einer ruhigen, respektvollen Atmosphäre analysiert werden können. Schaffen Sie einen Rahmen, in dem Fehler erwünscht sind. Damit sie am Ende zu einem Erfolg vergoldet werden können.

Der folgende Abschnitt zeigt, wie das geht.

Fehler vergolden

Drehen wir mal die Uhr wieder zurück. Es ist Mittwochmorgen und Thomas Schröder hat gerade erfahren, dass in seiner Linie ein grober Produktionsfehler aufgetreten ist. Sie wissen schon, der fehlende Duftstoff.

Am besten behält er beim Analysieren jetzt beides im Blick: die Fehlersuche und die positive Fehler-Such-Atmosphäre.

Schauen Sie, wie der Fehler-Regulierungs-Kreis in Tabelle 2.1.1. die unterschiedlichen Phasen einer Fehleranalyse beschreibt. In der Spalte ganz rechts sehen Sie auch,  welche Gefühle dabei hochkommen. 

Der Fehler-Regulierungs-Kreis 

 

Thema

Gefühl

Phase 1: Fehler erkennen „Ich habe versagt“„Ich schäme mich“„Ich bin sauer auf mich“
Phase 2: Fehler analysieren Kühler KopfKlarer Verstand
Phase 3: Neu planen MutHoffnungZuversicht
Phase 4: Das Neue umsetzen SpaßUnsicherheit
Phase 5: Ergebnisse messen Kühler KopfKlarer Verstand
Evtl. zurück in Phase 1    
Bei Erfolg: Phase der perfekten Performance    

Eine vertrauensvolle Atmosphäre hilft, aus Fehlern zu lernen

Thomas Schröder hat alle Schichtleiter zusammengetrommelt. Er möchte wissen, was am 27.02. schief gelaufen ist. Er sagt: „ Leute, wir müssen so schnell wie möglich herausbekommen, was da passiert ist. Ich weiß, dass Ihr alle gewissenhaft seid. Trotzdem ist in irgendeiner Schicht ein gravierender Fehler passiert. Auch wenn das eigentlich nicht vorkommen sollte, weiß ich, dass so etwas passieren kann. Lasst uns jetzt gemeinsam dran arbeiten, das in Zukunft zu vermeiden. Ich brauche jetzt Eure Hilfe.“

In Phase 1 sagt Thomas Schröder klipp und klar, worauf es ihm ankommt: den Fehler zu suchen, nicht den Schuldigen zu finden. Durch seine Wortwahl gelingt es ihm, seine Mitarbeiter zum Mitsuchen zu motivieren.

Phase 2: „Zunächst einmal müssen wir herausbekommen, was da im Einzelnen gelaufen ist. Bitte geht alle Dokumentationen noch einmal durch. Morgen früh um 09.00 möchte ich mich zusammen mit euch hinsetzen, um alles durchzugehen. Das heißt, dass ihr heute länger bleiben müsst. Wenn es irgendwie geht, sollten wir heute noch rauskriegen, was in den betreffenden Schichten passiert ist. Ihr wisst, dass die Produktion erst dann weiter laufen kann, wenn wir den Fehler gefunden haben.“

Phase 3 – einen Tag später: die Berichte zeigen deutlich, woran es gelegen hat. Aufgrund eines technischen Defekts wurde der Duftstoff nicht zugesetzt. Unglücklicherweise hatte die Endkontrolle am 27.02. nach der Spätschicht nicht richtig aufgepasst. Werner, der zuständige Schichtleiter erinnert sich, womit das zusammenhing. Der Kollege ist kurz vorher krank geworden. In seiner Not

hatte Werner einen Kollegen dorthin gesetzt, der noch unerfahren ist. Später bestätigte sich: aus Unsicherheit hatte der unerfahrene Kollege sich nicht getraut Bescheid zu sagen, als die ersten Unregelmäßigkeiten auftauchten.

„ Ich bin froh, dass wir die Ursache so schnell herausgefunden haben. Danke an euch alle, dass ihr mitgearbeitet habt. Danke Werner, dass du so offen warst. Wir haben dadurch viel Zeit gespart. Lasst uns jetzt nachdenken, wie wir so etwas in Zukunft vermeiden können. Habt ihr Vorschläge?“

In Phase 3 bestärkt Thomas seine Mitarbeiter in ihrer Offenheit und in ihrem Mut. Er bleibt sachlich, vermeidet unnötige Vorwürfe und richtet den Blick so schnell wie möglich nach vorne. Thomas legt Wert darauf, dass alle gemeinsam über eine neue Lösung nachdenken.

Zwei Wochen später, Phase 4: das Team hat mittlerweile erste Erfahrungen mit der Neuregelung des End-Prüfverfahrens gemacht. Hier gilt nun ein konsequentes Vier-Augen-Prinzip. Thomas ermutigt die Schichtführer, offen für neue Erfahrungen zu sein und kritisch zu überprüfen, was funktioniert und was nicht. Klaus Koch berichtet: „Also bei mir in der Schicht läuft es mittlerweile ganz gut. Wichtig ist vor allem, dass die beiden Kollegen, die nun gemeinsam die Endkontrolle machen, sich auch vertrauen. Wir haben besprochen, dass es nicht darum geht, sich kontrolliert und bevormundet zu fühlen. Daher setze ich im Moment immer zwei Kollegen zusammen, die sich gut verstehen. Sonst könnte es Ärger geben und dann besteht wieder die Gefahr, dass Unsicherheiten nicht zur Sprache kommen.“

Phase 5: Auch wenn bis jetzt alles gut gelaufen ist, sollten Sie sich abschließend mit allen zusammensetzen, die bei der Fehler-Analyse beteiligt waren. Nun ist es wichtig, entweder den Erfolg gemeinsam zu feiern oder festzustellen, das der Fehler noch immer nicht behoben ist und alles nochmal von vorne losgehen muss. Freuen Sie sich mit allen, wenn Sie jetzt schon erfolgreich waren, falls nicht, versuchen Sie sachlich zu bleiben und lassen Sie sich nicht entmutigen.

Viele Menschen fragen sich, ob man die Fehlerquote im Betrieb nicht erhöht, wenn man als Führungskraft nachsichtig und tolerant mit Fehlern umgeht. Einige befürchten, dass sich keiner mehr richtig anstrengt, wenn Fehler machen keine negativen Konsequenzen hat. Vielleicht ist Ihnen dieser Gedanke auch durch den Kopf gegangen, während Sie dieses Kapitel gelesen haben.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen sehr selbstkritisch im Umgang mit eigenen Fehlern sind. Der eigene innere Kritiker schimpft schon laut genug, da  brauchen die wenigsten auch noch einen äußeren strengen Kritiker.

Aber vielleicht beobachten Sie sich einmal selbst: wie reagieren Sie, wenn Sie von Kollegen oder von Ihrem Chef wegen eines Fehlers scharf kritisiert werden? Und wie reagieren Sie, wenn jemand Verständnis für Ihren Fehler zeigt, werden Sie dann nachlässig?

Übrigens, erst 1880 stellte sich heraus, dass sich William Sewalds Fehlentscheidung in einen grandiosen Erfolg verwandelt hatte.  In Alaska wurde nicht nur Gold entdeckt, sondern später auch Kupferminen und andere Bodenschätze.

Manchmal braucht man eben etwas Zeit, bis aus einem Fehler ein Erfolg werden darf.


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